Эдуард Алексеев

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Нотная запись народной музыки
Yahrbuch für Volksliedforsghung, XXXVIII (1993), Ss. 237-238.




Eduard Efimovic Alekseyev,  Notnaja zapis' narodnoj muzyki.  Teorija i praktika  [Notenaufzeichnung von Volksmusik.  Theorie und Praxis].  Moskva, Sovetskij kompozitor, 1990.  168 S., mus. Not., Tab., Graph.


Das vorliegende Buch des bekannten Moskauer Musikethnologen ist die erste selbständige Arbeit zum Problem der Transkription von Volksmusik in russischer Sprache.  Es enthält eine theoretische Abhandlung sowie einen zweiten Teil mit praktischen Empfehlungen, die durch umfangreiches Notenmaterial — in der Regel aus dem Bereich der ehemals sozialistischen Länder Eurasiens — ergänzt werden.

Zunächst gliedert der Autor die Geschichte der Notation (vorwiegend der russischen Volksmusik) in drei Phasen.  Die erste, "kompositorische", beginnt mit der Verwendung von traditionellen Melodien in der Kunstmusik des 19. Jahrhunderts, vor allem bei M.Balakirev.  In der zweiten Phase, die insbesondere mit dem Namen E.Linevas verbunden ist, wird eine detailliertere Wiedergabe von Tonaufzeichnungen angestrebt.  Die von Alekseyev vorgeschlagene Bezeichnung "transkriptorische Notation" leuchtet jedoch nicht ganz ein, da dieser Begriff gerade auch von den Vertretern der dritten Phase benutzt wird, zu denen in erster Linie E.Gippius zählt.  Dieser "analytische Notationstyp" verbindet eine nach Ansicht des Autors nicht immer gerechtfertigte Detailgenauigkeit mit einer analytischen Strukturierung des musikalischen Geschehens.

Ausführlich wird in der Arbeit die Spezifik der schriftlosen Existenzform traditioneller Musik behandelt, wobei der Autor rät, die reichhaltigen Erfahrungen der russischsprachigen Linguistik auf dem Gebiet der Umgangssprache für die Musikethnologie zu nutzen.  Ob jedoch "der Begriff der musikalischen Sprache mit dem gleichen Maß an Uberzeugungskraft, das in der Linguistik erreicht ist" (S. 38), bestimmt werden kann, darf wohl bezweifelt werden.

Als zentrale Aufgabe für die Musikethnologie sieht Alekseyev die Schaffung einer "integrativen Notation" an, die den "bildhaft-assoziativen Inhalt" des Klanggeschehens wiederzugeben habe (hierzu v. a. S. 22, 43).  Diese Notation soll sich nach Ansicht des Autors, der sich hierbei bewußt auch auf Prinzipien der Neumensysteme bezieht (S. 11), durch eine "neue Einfachheit" auszeich¬nen, die jedoch durch den in der jeweiligen Tradition akkulturierten Leser entschlüsselt werden kann.  Sie könne durchaus als Vorschrift zum Tragen kommen und als Mittel zur Errichtung einer "zweisprachigen Musikkultur" (S. 43) dienen. (In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß die Idee der bimusicality in den Ländern der ehemaligen SU seit längerem gerade auch von Vertretern der Musikethnologie mit zum Teil bemerkenswerten Ergebnissen praktiziert wird.)  Als Voraussetzung für die integrierende Notation sieht der Autor eine komplexe Notation an, auf die sich die praktischen Empfehlungen in Teil 2 beziehen.  Zu dieser gehören neben dem Notentext selbst ein differenzierter analytischer Kommentar sowie eine Charakterisierung des jeweiligen kulturellen und situativen Kontextes.

Der zweite Teil der Arbeit ist zunächst geprägt von der Forderung nach Eindeutigkeit der verwendeten Techniken und nach einer gewissen Harmonisierung von in der Notationspraxis aufgetretenen Widersprüchen.  Andererseits wird dem Transkriptor genügend Freiraum gelassen, alternative Lösungsmöglichkeiten gegeneinander abzuwägen und die Besonderheiten der jeweiligen Tradition und nicht zuletzt auch die Wahrnehmung des Lesers zu berücksichtigen.  Im folgenden wird eine Fülle von Möglichkeiten zur Darstellung des allgemeinen Klangcharakters, der Tonhöhe, von Tempo, Rhythmus und Metrum, des Verhältnisses von Text und Melodie sowie von Motivstruktur und Form abgehandelt.  Zu den von Aiekseyev selbst ausgearbeiteten Techniken gehört u.a. die Kennzeichnung der Sechsteltonabweichung durch    bzw.    (S. 66).  Der Viertelton wird in diesem System nicht berücksichtigt, als Ergänzung ließen sich für diesen die von anderen gebrauchten Zeichen ↑ bzw. ↓ heranziehen.  Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor der Differenzierung zwischen metrischer und "syntaktischer" Funktion des Taktstrichs (S. 85, 89) sowie der vertikalen Anordnung bestimmter tektonischer Abschnitte ("rangierende Notation").

Angesichts der begrüßenswerten methodologischen Offenheit der Arbeit, die der komplexen Natur ihres Gegenstands gerecht wird, muß es erstaunen, wie wenig der Autor auf früher geäußerte theoretische Überlegungen anderer Fachvertreter eingeht.  So ist der Gedanke von einer fundierten Analyse als Voraussetzung für jede ernsthafte Transkription wie auch die Notwendigkeit, die Normen der jeweils dokumentierten Tradition in der Notation deutlich werden zu lassen, lange vor Alekseyev von Igor Macievskij, dem führenden Ethnoorganologen im ostslavischen Raum, eingehend dargelegt worden1.  (Die betrettende Abhandlung wird lediglich einmal in bezug auf die Darstellung der Tonhöhe kurz erwähnt.)  Weiter läßt der Autor außer acht, daß ein Konzept für eine vereinfachte, an den akkulturierten Leser (oder Interpreten) gerichtete Notation ebenfalls in dem genannten Beitrag vorgelegt wurde — wenn auch nicht als "qualitativ höherstehender Notationstyp" (S. 51), sondern als mögliche, von der jeweiligen Zielsetzung abhängige Alternative.  Ebenso hätte die von Aleksandr Banin vorgeschlagene Methode der "rangierenden Notation"2 zumindest erwähnt werden können. Als fraglich darf ferner die Behauptung angesehen werden, in der Folkloretradition vollziehe sich die Schulung natürlich und nicht beabsichtigt.  Dem stehen vielfache Hinweise auf eine bewußte Unterweisung in der huzulischen Geigentradition gegenüber, wie sie in den Arbeiten Macievskijs zu finden sind.


Ulrich Morgenstern (Hamburg)


1 Igor Vladimirovic Macievskij, Issledovatel’skie problemy transkripcii instrumental’noj narodnoj muzyki [Forschungsprobleme der Transkription von instrumentaler Volksmusik],  in:  Tradicionnoe i sovremennoe narodnoe muzykal'noe iskusstvo.  Sbornik trudov GMPI im. Gnesinych, vyp. 29,  Moskva 1976, S. 5—65.

2 Aleksandr Aleksandrovic Banin,  Slovo i napev.  Problemy analiticeskoj tekstologii [Wort und Melodie.  Probleme der analytischen Textologie],  in:  Fol’klor.  Obraz i poėtičeskoe slovo v kontekste,  Moskva 1984, S. 170—202.





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